Dr. Hans Reichelt
Zehn
Jahre lang hatte W. Ulbricht mit mir als Landwirtschaftsminister,
Mitglied der DBD, bei der sozialistischen Umgestaltung der
Landwirtschaft gearbeitet. Es ist deshalb von großem Interesse, die
heutige Sicht marxistischer Forscher auf sein Werk und seine Person
kennen zu lernen. In den siebziger und achtziger Jahren hatte ich auch
als Minister unter Honecker gearbeitet, was sicher meine Sicht
beeinflusst.
W. Ulbricht habe ich nach der 2. Parteikonferenz
der SED, während der ganzen Periode der Umgestaltung der
einzelbäuerlichen zur genossenschaftlichen Landwirtschaft erlebt, als
Arbeiterführer und Staatsmann mit Visionen, welche heutigen Politikern
völlig abhanden gekommen sind. Sein Wirkungsfeld war universell, viel
umfassender als zum Beispiel bei Adenauer. Er vermochte
gesellschaftliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, Schlüsse zu
ziehen und Veränderungen durchzuführen. Er suchte stets die Verbindung
zu den Werktätigen und ihre Stimmung zu kennen, arbeitete an der
Entwicklung der Demokratie in den Betrieben und der Gesellschaft. Gegen
Abschottung und Schönfärberei wehrte er sich. Auch in kompliziertesten
Situationen behielt er die Übersicht und die Fähigkeit zu handeln.
Als
die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 den Aufbau der Grundlagen
des Sozialismus und damit in der Landwirtschaft die Gründung von
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beschloss, lagen
dem konkrete gesellschaftliche Entwicklungen zugrunde. In der
Landwirtschaft hatten der durch den Krieg hervorgerufene Mangel an
Technik, die Übernahme von Bodenreformland, oft durch wenig erfahrene
Neubauern, das Fehlen Zehntausender Bauern auf den Höfen u. a.
dazu geführt, dass bereits Ende der vierziger Jahre sich Bauern und
Bäuerinnen zur gemeinsamen Produktion und zu Produktivgenossenschaften
vereinigen wollten. Sogar Statuten waren ausgearbeitet. Diese
Entwicklung wurde unterbunden.
Anfang der fünfziger Jahre
bildeten sich neben den bäuerlichen Genossenschaften im Versorgungs-
und Handelsbereich auch im Produktionsbereich Bestell-, Ernte-, Drusch-
und Rodegemeinschaften. Waren es 1951 10 053 Gemeinschaften
mit rund 335 000 Mitgliedern, so gab es 1953 fast die fünffache
Anzahl. Diese Gemeinschaften bildeten eine entscheidende Bedingung für
den Übergang zu LPG.
Zum anderen musste die neue Technik auf das
rationellste eingesetzt und die Arbeitsproduktivität gesteigert werden.
Über alledem war die landwirtschaftliche Markt-, die
Nahrungsgüterproduktion schnell zu steigern. Die Forderungen nach der
Aufhebung der Lebensmittelrationierung wurden immer zwingender. Auch
die Rückstände in der kulturellen und sozialen Entwicklung auf dem
Lande waren schrittweise zu überwinden. Schließlich benötigte schnell
wachsende Industrie, Verkehr und Handel Arbeitskräfte, die vorwiegend
aus der Landwirtschaft freigesetzt werden sollten. Den Weg zur Lösung
aller dieser Probleme und damit zur Schaffung sozialistischer
Produktionsverhältnisse sah W. Ulbricht in der Vergenossenschaftlichung
der landwirtschaftlichen Produktion, der Bildung von LPG.
Bei
der Abstimmung der Linie der 2. Parteikonferenz am 7. April 1952 durch
Pieck, Grotewohl und Ulbricht mit Stalin, Teilnehmer waren auch
Molotow, Malenkow, Bulganin und Mikojan, stimmte Stalin, nach den
handschriftlichen Aufzeichnungen von W. Pieck, dem Übergang zur
genossenschaftlichen Produktion zu. "Stalin ... Auch Schaffung von
Produktiv-Genossenschaften im Dorfe, um Großbauern einzukreisen.
Geschickt im Herbst beginnen. Beispiele schaffen. Vergünstigungen,
Saatgut, Maschinen. Instrukteure zur Verfügung. Niemand zwingen. Nicht
schreien Kolchos-Sozialismus. Tatsachen schaffen ..." Die Bildung von
Produktivgenossenschaften, um "Großbauern einzukreisen", entsprach
vermutlich dem Denken Stalins in Klassenkampfkategorien. Es gab, wie
dargestellt, weit gewichtigere Gründe.
Zwei Prinzipien waren
von Beginn an bestimmend: die LPG mussten den Erfahrungen der Bauern
und Bäuerinnen - besonders im Genossenschaftswesen und der
gegenseitigen Bauernhilfe - entsprechend gebildet und organisiert
werden und durften, auch bei Übernahme der Erfahrungen aus der SU,
keine Kolchosen sein. Der Eintritt musste freiwillig erfolgen. Das
setzte nicht nur Transparenz, wie heute unablässig gefordert, voraus,
sondern die weit entwickelte Demokratie.
Für die Anleitung der
Genossenschaftsbildung wurde in der SMAD Prof. Stupow, ein Spezialist
der Kolchosordnung und -organisation, eingesetzt. Er kam direkt aus
Bulgarien, wo er die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft mit
organisiert hatte. Bei der Ausarbeitung der Statuten der LPG und der
Betriebsordnungen kam es sehr bald zu prinzipiellen
Auseinandersetzungen. In deren Ergebnis setzte sich W. Ulbricht durch.
Der Boden blieb im Eigentum der Bauern und wurde nicht verstaatlicht.
Entsprechend den Wünschen der Bauern gab es drei Typen von LPG, die
einen schrittweisen Übergang zur gemeinsamen Wirtschaft in der
Pflanzen- und Tierproduktion ermöglichten. Auch die Regelungen für die
individuelle Hauswirtschaft gehörten hierzu. Die weitgehenden
Bestimmungen über die innergenossenschaftliche Demokratie
berücksichtigten die Eigentumsverhältnisse und schufen Vertrauen für
den LPG-Eintritt. Schließlich wurde auch nach Stalins Tod der Eintritt
von Großbauern in die LPG ermöglicht. Auf Grund dessen ist es
ahistorisch, von einer Kollektivierung oder sogar Massenkollektivierung
zu schreiben. Bürgerliche Medien wenden diese Begriffe zur
Diskriminierung einer erfolgreichen Entwicklung auf dem Lande in der
DDR an.
Die Umgestaltung der Landwirtschaft war von Anfang bis
Ende "Chefsache" von W. Ulbricht, ohne dass solches verkündet wurde.
Anders als heute, da allerhand wichtiges und unwichtiges als Chefsache
der Bundeskanzlerin öffentlich verkündet wird, ohne dass entsprechendes
geschieht.
In den Jahren der Umgestaltung hat, bis auf ein
Jahr, W. Ulbricht auf den jährlichen "Konferenzen der Vorsitzenden und
Aktivisten der LPG" das Hauptreferat gehalten und die weitere
Entwicklungsrichtung angegeben. Zur Vorbereitung lud er etwa 20
Personen, neben dem Präsidenten der Landwirtschaftsakademie, dem
Vorsitzenden der DBD, dem Landwirtschaftsminister, Parteifunktionären,
erfahrene, ideenreiche und kritische LPG-Vorsitzende, ein. Nach kurzer
Einleitung erwartete er eine offene Darlegung zur Lage in der
Landwirtschaft, besonders der Stimmung unter den Bauern, sowohl den
Genossenschafts- wie den Einzelbauern, und Vorschläge für die weitere
Entwicklung. Hier suchte er tief in die Problematik einzudringen.
Unterbrochen wurden sehr abrupt allgemeine Darlegungen.
Ich
erinnere mich, dass er in einem Jahr mit der Einschätzung der Lage
unter den Bauern von keiner Seite einverstanden war und Arbeitsgruppen,
heute wären es "Unabhängige Gutachter", einsetzte, um die Realität zu
erfahren. Er suchte häufig bei Besuchen in den Dörfern, am liebsten
ohne große Begleitung, und in Bauernaussprachen die Meinungen,
Vorschläge und Kritiken kennen zu lernen. Nicht selten wog die Meinung
von Bäuerinnen und Bauern schwerer als die des Ministers.
Auf
den Konferenzen wurde jährlich in offener Aussprache Rechenschaft
gelegt, auch von der Nahrungsgüterwirtschaft, der Agrarwissenschaft,
den Ministerien für Landwirtschaft, Maschinenbau, Chemie und Bauwesen,
und es wurden neue Aufgaben beraten. Für alle LPG verbindliche
Empfehlungen, zum Beispiel für die Betriebs- und Arbeitsorganisation,
die Normierung und Vergütung der Arbeit, die Anwendung neuer
wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen,
die Gestaltung von Kooperationen zu anderen Wirtschaftszweigen wurden
ebenso wie die Entwürfe für Gesetzes- oder Ministerratsvorlagen
beschlossen.
Die Frage, wie die Bauern und Bäuerinnen
unmittelbar an der Gestaltung der Agrarpolitik beteiligt werden können,
bewegte W. Ulbricht über alle Jahre hindurch. Die gesetzlichen
Regelungen durch die Volkskammer bzw. den Ministerrat wurden zuvor in
den Mitgliederversammlungen der LPG und der Öffentlichkeit diskutiert
und, wo erforderlich, Ergänzungen oder Abänderungen vorgeschlagen. Das
betraf zum Beispiel das Gesetz über die LPG, die Musterstatuten und
Betriebsordnungen, langfristige Konzeptionen für die Entwicklung von
Wissenschaft und Technik und besonders für die Aus- und Weiterbildung
der Genossenschaftsmitglieder und deren Nachwuchses. Alles Erfahrungen,
deren Anwendung für die "Demokratie" Bundesrepublik Deutschland längst
fällig sind, wie zum Beispiel für eine Deutsche Verfassung, den Vertrag
über die EU, das Sozialkonzept der nächsten Jahre oder die Maßnahmen
zur Beseitigung der Ungleichentwicklung in Ostdeutschland. Es ist
sicher unbestritten, dass dadurch die viel geschmähte
Politikverdrossenheit mit beseitigt werden könnte.
In der
Landwirtschaft wurden, was heute in Vergessenheit geraten ist, die
Grundsätze des Neuen Ökonomischen Systems des Sozialismus am weitesten
verwirklicht. Das betraf zum Beispiel die Einführung von
Vertragsbeziehungen zwischen Betrieben anstelle einer Vielzahl von
Planvorgaben (letztere wurden rigoros begrenzt), die
Eigenerwirtschaftung der Mittel, die Entscheidung zur wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Tätigkeit dort, wo es am sachkundigsten
erfolgen konnte, und die Durchführung einer Agrarpreisreform. Hierbei
wurden vor der Beschlussfassung durch den Ministerrat die Auswirkungen
dieser Reform in den LPG berechnet, da diese nach den natürlichen und
ökonomischen Bedingungen sehr unterschiedlich ausfielen. In der
Folgezeit wurde leider manche ökonomische Regelung wieder durch
administrative Maßnahmen verdrängt.
1956 wurde als beratendes
Organ des Ministerrates ein LPG-Beirat beim Ministerrat mit 50
Vorsitzenden und Spezialisten der LPG, zehn Vertretern der MTS, fünf
der örtlichen Staatsorgane und Partei- und Staatsfunktionären gebildet.
Analoge Beiräte wurden bei den örtlichen Räten geschaffen.
Um
eine direkte Verantwortung der Bauern an der Leitung des Staates und
der Gesellschaft zu erreichen, wurden Anfang der sechziger Jahre
Landwirtschaftsräte zentral, in den Bezirken und Kreisen gebildet. Die
Idee dazu kam W. Ulbricht in Rumänien Ende der fünfziger Jahre. Hier
erläuterte der Generalsekretär die Arbeit entsprechender bäuerlicher
Organe. Ich erhielt den Auftrag, alle Unterlagen über deren Wirken zu
beschaffen und mit dem Leiter der Rechtsabteilung der SED-Führung
entsprechende Vorschläge auszuarbeiten.
Die
Landwirtschaftsräte in der DDR besaßen auf allen Ebenen einen großen
Einfluss sowohl bei der Planung, operativen Arbeit, Kontrolle über die
Durchführung von Gesetzen und Beschlüssen, wie auch der langfristigen
Entwicklung. Die staatlichen Landwirtschaftsorgane, Ministerium,
Bereiche für Landwirtschaft der örtlichen Räte, wurden ihnen als
Produktionsleitungen mit zugeordnet.
Die gesellschaftliche
Umgestaltung war mit Auseinandersetzungen zu falschen Auffassungen oder
Vorbildern verbunden. So waren die Vorschläge von Vieweg, heute von
manchem Historiker als versäumte Reform dargestellt, hauptsächlich auf
ein Abbremsen der genossenschaftlichen Entwicklung und die Stärkung
einzelbäuerlicher Wirtschaften gerichtet. Dabei war eine versprochene
kurzfristige Steigerung der Marktproduktion in diesen Betrieben
anstelle der in den genossenschaftlichen mehr als fraglich und
unbewiesen.
Ende der sechziger Jahre wurde zur agra in Leipzig,
die unter Beteiligung anderer sozialistischer Länder durchgeführt
wurde, von W. Ulbricht entschieden, dass die von chinesischer Seite
vorgesehene Darstellung von Volkskommunen nicht erfolgt. Dieser Weg
wurde als Irrweg und Rückschritt angesehen.
Rigoros war W.
Ulbricht, wenn es um die Stärkung der Partei und hier besonders um die
Verankerung ihres Einflusses auf dem Lande ging. Das bekam auch die DBD
zu spüren. Die SED hatte in jeder Hinsicht den größten Anteil an der
sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Sie hatte in dieser
Zeit an Ansehen und Vertrauen gewonnen. Gestützt auf die MTS und deren
politische Abteilungen wurden sehr zügig Mitglieder gewonnen und neue
Betriebsgruppen gebildet. Ab 1953 sollte die vier Jahre zuvor
gegründete DBD, die die werktätige bäuerliche Bevölkerung, die von der
SED noch nicht erreicht worden war, stärker an der demokratischen
Entwicklung beteiligte, nur noch die Parteimitglieder, nicht die
parteilosen Bauern und Bäuerinnen für die LPG gewinnen. Die Werbung
neuer Mitglieder für die Partei wurde begrenzt, keine Land- und
Forstarbeiter sowie Angestellte sollten gewonnen werden, Betriebs- und
Schulgruppen waren aufzulösen und keine neuen zu gründen. Als sich die
Gewinnung aller Bäuerinnen und Bauern für die LPG als kompliziert
erwies, wurde die Umgestaltung der Landwirtschaft schließlich als eine
Angelegenheit aller gesellschaftlichen Kräfte, aller Parteien und
staatlichen Organe erklärt.
Nach dem Abschluss der
LPG-Gründung übernahm 1963 die SED von der DBD die Verantwortung für
die staatliche Leitung der Landwirtschaft auf allen Ebenen. Erst im
November 1989 stellte die DBD wieder den Landwirtschaftsminister. 25
Jahre hindurch hatte es nicht einmal für einen der vielen
Stellvertreter gereicht.
Die DBD mit ihren 86 000
Mitgliedern hatte nach der LPG-Gründung in ihren Reihen 3276
Vorsitzende von LPG, über 10 000 Vorstandsmitglieder und fast 20
Prozent aller wissenschaftlich ausgebildeten Führungskräfte in den LPG.
Sie war zu einer selbstbewussten, in den Dörfern lebende und
gestaltende gesellschaftliche Kraft geworden, mit großem Zusammenhalt
und enger Volksverbundenheit. Ihre alternativlose Entfernung aus der
staatlichen Leitung hat das Vertrauen nicht weniger Mitglieder zu SED
gestört. Die Bereitschaft und den Willen einer großen Mehrheit, aktiv
an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft, besonders der
Landwirtschaft, mitzuarbeiten, hat es nicht aufhalten können. Dafür
sprechen auch noch heute die große Anzahl von Agrargenossenschaften und
anderen Gemeinschaftsunternehmen in der Landwirtschaft.