This is Google's cache of http://die-linke.de/partei/weitere_strukturen/andere_gremien/marxistischer_arbeitskreis/geschichtskorrespondenz/detail/zurueck/aktuelle-ausgabe-4/artikel/die-sozialistische-umgestaltung-der-landwirtschaft-und-walter-ulbricht/. It is a snapshot of the page as it appeared on 11 Aug 2008 09:55:46 GMT. The current page could have changed in the meantime. Learn more

Full version
 
Juli 2008 Geschichtskorrespondenz

Die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft und Walter Ulbricht

Dr. Hans Reichelt

Zehn Jahre lang hatte W. Ulbricht mit mir als Landwirtschaftsminister, Mitglied der DBD, bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft gearbeitet. Es ist deshalb von großem Interesse, die heutige Sicht marxistischer Forscher auf sein Werk und seine Person kennen zu lernen. In den siebziger und achtziger Jahren hatte ich auch als Minister unter Honecker gearbeitet, was sicher meine Sicht beeinflusst.

W. Ulbricht habe ich nach der 2. Parteikonferenz der SED, während der ganzen Periode der Umgestaltung der einzelbäuerlichen zur genossenschaftlichen Landwirtschaft erlebt, als Arbeiterführer und Staatsmann mit Visionen, welche heutigen Politikern völlig abhanden gekommen sind. Sein Wirkungsfeld war universell, viel umfassender als zum Beispiel bei Adenauer. Er vermochte gesellschaftliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, Schlüsse zu ziehen und Veränderungen durchzuführen. Er suchte stets die Verbindung zu den Werktätigen und ihre Stimmung zu kennen, arbeitete an der Entwicklung der Demokratie in den Betrieben und der Gesellschaft. Gegen Abschottung und Schönfärberei wehrte er sich. Auch in kompliziertesten Situationen behielt er die Übersicht und die Fähigkeit zu handeln.

Als die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus und damit in der Landwirtschaft die Gründung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beschloss, lagen dem konkrete gesellschaftliche Entwicklungen zugrunde. In der Landwirtschaft hatten der durch den Krieg hervorgerufene Mangel an Technik, die Übernahme von Bodenreformland, oft durch wenig erfahrene Neubauern, das Fehlen Zehntausender Bauern auf den Höfen u. a. dazu geführt, dass bereits Ende der vierziger Jahre sich Bauern und Bäuerinnen zur gemeinsamen Produktion und zu Produktivgenossenschaften vereinigen wollten. Sogar Statuten waren ausgearbeitet. Diese Entwicklung wurde unterbunden.

Anfang der fünfziger Jahre bildeten sich neben den bäuerlichen Genossenschaften im Versorgungs- und Handelsbereich auch im Produktionsbereich Bestell-, Ernte-, Drusch- und Rodegemeinschaften. Waren es 1951  10 053 Gemeinschaften mit rund 335 000 Mitgliedern, so gab es 1953 fast die fünffache Anzahl. Diese Gemeinschaften bildeten eine entscheidende Bedingung für den Übergang zu LPG.

Zum anderen musste die neue Technik auf das rationellste eingesetzt und die Arbeitsproduktivität gesteigert werden. Über alledem war die landwirtschaftliche Markt-, die Nahrungsgüterproduktion schnell zu steigern. Die Forderungen nach der Aufhebung der Lebensmittelrationierung wurden immer zwingender. Auch die Rückstände in der kulturellen und sozialen Entwicklung auf dem Lande waren schrittweise zu überwinden. Schließlich benötigte schnell wachsende Industrie, Verkehr und Handel Arbeitskräfte, die vorwiegend aus der Landwirtschaft freigesetzt werden sollten. Den Weg zur Lösung aller dieser Probleme und damit zur Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse sah W. Ulbricht in der Vergenossenschaftlichung der landwirtschaftlichen Produktion, der Bildung von LPG.

Bei der Abstimmung der Linie der 2. Parteikonferenz am 7. April 1952 durch Pieck, Grotewohl und Ulbricht mit Stalin, Teilnehmer waren auch Molotow, Malenkow, Bulganin und Mikojan, stimmte Stalin, nach den handschriftlichen Aufzeichnungen von W. Pieck, dem Übergang zur genossenschaftlichen Produktion zu. "Stalin ... Auch Schaffung von Produktiv-Genossenschaften im Dorfe, um Großbauern einzukreisen. Geschickt im Herbst beginnen. Beispiele schaffen. Vergünstigungen, Saatgut, Maschinen. Instrukteure zur Verfügung. Niemand zwingen. Nicht schreien Kolchos-Sozialismus. Tatsachen schaffen ..." Die Bildung von Produktivgenossenschaften, um "Großbauern einzukreisen", entsprach vermutlich dem Denken Stalins in Klassenkampfkategorien. Es gab, wie dargestellt, weit gewichtigere Gründe.

Zwei Prinzipien waren von Beginn an bestimmend: die LPG mussten den Erfahrungen der Bauern und Bäuerinnen - besonders im Genossenschaftswesen und der gegenseitigen Bauernhilfe - entsprechend gebildet und organisiert werden und durften, auch bei Übernahme der Erfahrungen aus der SU, keine Kolchosen sein. Der Eintritt musste freiwillig erfolgen. Das setzte nicht nur Transparenz, wie heute unablässig gefordert, voraus, sondern die weit entwickelte Demokratie.

Für die Anleitung der Genossenschaftsbildung wurde in der SMAD Prof. Stupow, ein Spezialist der Kolchosordnung und -organisation, eingesetzt. Er kam direkt aus Bulgarien, wo er die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft mit organisiert hatte. Bei der Ausarbeitung der Statuten der LPG und der Betriebsordnungen kam es sehr bald zu prinzipiellen Auseinandersetzungen. In deren Ergebnis setzte sich W. Ulbricht durch. Der Boden blieb im Eigentum der Bauern und wurde nicht verstaatlicht. Entsprechend den Wünschen der Bauern gab es drei Typen von LPG, die einen schrittweisen Übergang zur gemeinsamen Wirtschaft in der Pflanzen- und Tierproduktion ermöglichten. Auch die Regelungen für die individuelle Hauswirtschaft gehörten hierzu. Die weitgehenden Bestimmungen über die innergenossenschaftliche Demokratie berücksichtigten die Eigentumsverhältnisse und schufen Vertrauen für den LPG-Eintritt. Schließlich wurde auch nach Stalins Tod der Eintritt von Großbauern in die LPG ermöglicht. Auf Grund dessen ist es ahistorisch, von einer Kollektivierung oder sogar Massenkollektivierung zu schreiben. Bürgerliche Medien wenden diese Begriffe zur Diskriminierung einer erfolgreichen Entwicklung auf dem Lande in der DDR an.

Die Umgestaltung der Landwirtschaft war von Anfang bis Ende "Chefsache" von W. Ulbricht, ohne dass solches verkündet wurde. Anders als heute, da allerhand wichtiges und unwichtiges als Chefsache der Bundeskanzlerin öffentlich verkündet wird, ohne dass entsprechendes geschieht.

In den Jahren der Umgestaltung hat, bis auf ein Jahr, W. Ulbricht auf den jährlichen "Konferenzen der Vorsitzenden und Aktivisten der LPG" das Hauptreferat gehalten und die weitere Entwicklungsrichtung angegeben. Zur Vorbereitung lud er etwa 20 Personen, neben dem Präsidenten der Landwirtschaftsakademie, dem Vorsitzenden der DBD, dem Landwirtschaftsminister, Parteifunktionären, erfahrene, ideenreiche und kritische LPG-Vorsitzende, ein. Nach kurzer Einleitung erwartete er eine offene Darlegung zur Lage in der Landwirtschaft, besonders der Stimmung unter den Bauern, sowohl den Genossenschafts- wie den Einzelbauern, und Vorschläge für die weitere Entwicklung. Hier suchte er tief in die Problematik einzudringen. Unterbrochen wurden sehr abrupt allgemeine Darlegungen.

 Ich erinnere mich, dass er in einem Jahr mit der Einschätzung der Lage unter den Bauern von keiner Seite einverstanden war und Arbeitsgruppen, heute wären es "Unabhängige Gutachter", einsetzte, um die Realität zu erfahren. Er suchte häufig bei Besuchen in den Dörfern, am liebsten ohne große Begleitung, und in Bauernaussprachen die Meinungen, Vorschläge und Kritiken kennen zu lernen. Nicht selten wog die Meinung von Bäuerinnen und Bauern schwerer als die des Ministers.

Auf den Konferenzen wurde jährlich in offener Aussprache Rechenschaft gelegt, auch von der Nahrungsgüterwirtschaft, der Agrarwissenschaft, den Ministerien für Landwirtschaft, Maschinenbau, Chemie und Bauwesen, und es wurden neue Aufgaben beraten. Für alle LPG verbindliche Empfehlungen, zum Beispiel für die Betriebs- und Arbeitsorganisation, die Normierung und Vergütung der Arbeit, die Anwendung neuer wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen, die Gestaltung von Kooperationen zu anderen Wirtschaftszweigen wurden ebenso wie die Entwürfe für Gesetzes- oder Ministerratsvorlagen beschlossen.

Die Frage, wie die Bauern und Bäuerinnen unmittelbar an der Gestaltung der Agrarpolitik beteiligt werden können, bewegte W. Ulbricht über alle Jahre hindurch. Die gesetzlichen Regelungen durch die Volkskammer bzw. den Ministerrat wurden zuvor in den Mitgliederversammlungen der LPG und der Öffentlichkeit diskutiert und, wo erforderlich, Ergänzungen oder Abänderungen vorgeschlagen. Das betraf zum Beispiel das Gesetz über die LPG, die Musterstatuten und Betriebsordnungen, langfristige Konzeptionen für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und besonders für die Aus- und Weiterbildung der Genossenschaftsmitglieder und deren Nachwuchses. Alles Erfahrungen, deren Anwendung für die "Demokratie" Bundesrepublik Deutschland längst fällig sind, wie zum Beispiel für eine Deutsche Verfassung, den Vertrag über die EU, das Sozialkonzept der nächsten Jahre oder die Maßnahmen zur Beseitigung der Ungleichentwicklung in Ostdeutschland. Es ist sicher unbestritten, dass dadurch die viel geschmähte Politikverdrossenheit mit beseitigt werden könnte.

In der Landwirtschaft wurden, was heute in Vergessenheit geraten ist, die Grundsätze des Neuen Ökonomischen Systems des Sozialismus am weitesten verwirklicht. Das betraf zum Beispiel die Einführung von Vertragsbeziehungen zwischen Betrieben anstelle einer Vielzahl von Planvorgaben (letztere wurden rigoros begrenzt), die Eigenerwirtschaftung der Mittel, die Entscheidung zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Tätigkeit dort, wo es am sachkundigsten erfolgen konnte, und die Durchführung einer Agrarpreisreform. Hierbei wurden vor der Beschlussfassung durch den Ministerrat die Auswirkungen dieser Reform in den LPG berechnet, da diese nach den natürlichen und ökonomischen Bedingungen sehr unterschiedlich ausfielen. In der Folgezeit wurde leider manche ökonomische Regelung wieder durch administrative Maßnahmen verdrängt.

1956 wurde als beratendes Organ des Ministerrates ein LPG-Beirat beim Ministerrat mit 50 Vorsitzenden und Spezialisten der LPG, zehn Vertretern der MTS, fünf der örtlichen Staatsorgane und Partei- und Staatsfunktionären gebildet. Analoge Beiräte wurden bei den örtlichen Räten geschaffen.

Um eine direkte Verantwortung der Bauern an der Leitung des Staates und der Gesellschaft zu erreichen, wurden Anfang der sechziger Jahre Landwirtschaftsräte zentral, in den Bezirken und Kreisen gebildet. Die Idee dazu kam W. Ulbricht in Rumänien Ende der fünfziger Jahre. Hier erläuterte der Generalsekretär die Arbeit entsprechender bäuerlicher Organe. Ich erhielt den Auftrag, alle Unterlagen über deren Wirken zu beschaffen und mit dem Leiter der Rechtsabteilung der SED-Führung entsprechende Vorschläge auszuarbeiten.

Die Landwirtschaftsräte in der DDR besaßen auf allen Ebenen einen großen Einfluss sowohl bei der Planung, operativen Arbeit, Kontrolle über die Durchführung von Gesetzen und Beschlüssen, wie auch der langfristigen Entwicklung. Die staatlichen Landwirtschaftsorgane, Ministerium, Bereiche für Landwirtschaft der örtlichen Räte, wurden ihnen als Produktionsleitungen mit zugeordnet.

Die gesellschaftliche Umgestaltung war mit Auseinandersetzungen zu falschen Auffassungen oder Vorbildern verbunden. So waren die Vorschläge von Vieweg, heute von manchem Historiker als versäumte Reform dargestellt, hauptsächlich auf ein Abbremsen der genossenschaftlichen Entwicklung und die Stärkung einzelbäuerlicher Wirtschaften gerichtet. Dabei war eine versprochene kurzfristige Steigerung der Marktproduktion in diesen Betrieben anstelle der in den genossenschaftlichen mehr als fraglich und unbewiesen.

Ende der sechziger Jahre wurde zur agra in Leipzig, die unter Beteiligung anderer sozialistischer Länder durchgeführt wurde, von W. Ulbricht entschieden, dass die von chinesischer Seite vorgesehene Darstellung von Volkskommunen nicht erfolgt. Dieser Weg wurde als Irrweg und Rückschritt angesehen.

Rigoros war W. Ulbricht, wenn es um die Stärkung der Partei und hier besonders um die Verankerung ihres Einflusses auf dem Lande ging. Das bekam auch die DBD zu spüren. Die SED hatte in jeder Hinsicht den größten Anteil an der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Sie hatte in dieser Zeit an Ansehen und Vertrauen gewonnen. Gestützt auf die MTS und deren politische Abteilungen wurden sehr zügig Mitglieder gewonnen und neue Betriebsgruppen gebildet. Ab 1953 sollte die vier Jahre zuvor gegründete DBD, die die werktätige bäuerliche Bevölkerung, die von der SED noch nicht erreicht worden war, stärker an der demokratischen Entwicklung beteiligte, nur noch die Parteimitglieder, nicht die parteilosen Bauern und Bäuerinnen für die LPG gewinnen. Die Werbung neuer Mitglieder für die Partei wurde begrenzt, keine Land- und Forstarbeiter sowie Angestellte sollten gewonnen werden, Betriebs- und Schulgruppen waren aufzulösen und keine neuen zu gründen. Als sich die Gewinnung aller Bäuerinnen und Bauern für die LPG als kompliziert erwies, wurde die Umgestaltung der Landwirtschaft schließlich als eine Angelegenheit aller gesellschaftlichen Kräfte, aller Parteien und staatlichen Organe erklärt.

Nach dem Abschluss der LPG-Gründung übernahm 1963 die SED von der DBD die Verantwortung für die staatliche Leitung der Landwirtschaft auf allen Ebenen. Erst im November 1989 stellte die DBD wieder den Landwirtschaftsminister. 25 Jahre hindurch hatte es nicht einmal für einen der vielen Stellvertreter gereicht.

Die DBD mit ihren 86 000 Mitgliedern hatte nach der LPG-Gründung in ihren Reihen 3276 Vorsitzende von LPG, über 10 000 Vorstandsmitglieder und fast 20 Prozent aller wissenschaftlich ausgebildeten Führungskräfte in den LPG. Sie war zu einer selbstbewussten, in den Dörfern lebende und gestaltende gesellschaftliche Kraft geworden, mit großem Zusammenhalt und enger Volksverbundenheit. Ihre alternativlose Entfernung aus der staatlichen Leitung hat das Vertrauen nicht weniger Mitglieder zu SED gestört. Die Bereitschaft und den Willen einer großen Mehrheit, aktiv an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft, besonders der Landwirtschaft, mitzuarbeiten, hat es nicht aufhalten können. Dafür sprechen auch noch heute die große Anzahl von Agrargenossenschaften und anderen Gemeinschaftsunternehmen in der Landwirtschaft.